Agiler Kurzschluss?

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Strukturlos in die agile Transformation ist wie Steckdosen ohne Sicherung

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Im letzten Artikel zur agilen Transformation habe ich aufgezeigt, wie man herausfinden kann, wo man als Unternehmen gerade steht und wie man ein Zielbild für die digitale Zukunft entwickelt. Diesmal dreht sich alles um die Relevanz von strukturellen Veränderungen für einen nachhaltigen agilen Kulturwandel ist. Tatsache ist, dass viele glauben, Agilität und Struktur seien nicht miteinander kompatibel. Schließlich wird Agilität mit dem Abbau von Hierarchien (= Strukturen) in Verbindung gebracht. Dabei braucht agiles Arbeiten dringend Struktur – allerdings eine ganz andere als jene, die Unternehmen mit einer Command-and-Control-Führung perfektioniert haben. Strukturelle Rahmenbedingungen verändern sich nicht von selbst, sie müssen aktiv angepasst werden.

Doch wer kann Strukturen verändern? Das Management und Führungskräfte. Gerade darin liegt die Herausforderung, denn: Ein Strukturwandel in Richtung Agilität erfordert die Abgabe von Entscheidungsbefugnissen und die Auflösung von Informationssilos. Das kann für manche schmerzhaft sein – v.a. dann, wenn bestimmte Privilegien über Jahre hinweg erarbeitet wurden. Es geht nicht darum, dass sich Führungskräfte ab sofort in die fachliche Arbeit stürzen, sondern dass von vorneherein klar sein muss, dass die Entscheidungsbefugnis auch dort liegt, wo die Handlungskompetenz liegt – und das ist in den meisten Fällen beim Team.

ADVIA Modell der agilen Transformation

Abbildung 1: Das ADVIA Modell der agilen Transformation

ADVIA hat dafür vier Strukturhebel identifiziert, mit denen agile Transformation erleichtert werden kann:

  • Anpassungsfähige Strategie- und Steuerungssysteme
  • kollaboratives Prozessmanagement
  • innovationsorientierte IT und
  • kompetenzorientierte Führung.

Dabei steht eines fest: Ohne Veränderung der Strukturen gibt es keine agile Transformation, denn nur die Strukturveränderung ermöglicht die iterative Entwicklung kultureller Kompetenzen (siehe Abbildung 1). Dadurch können Freiräume für notwendige Entwicklungen entstehen.

1. Anpassungsfähige Strategie- und Steuerungssysteme

Wie im ersten Blogbeitrag beschrieben, scheitern Pläne, weil sie nicht flexibel auf die Veränderungszyklen digitaler Entwicklungen reagieren. Unternehmen, die in den vergangenen 10 Jahren vom Markt verschwunden sind, haben einen der folgenden Fehler begangen: Sie haben entweder auf die falschen Strategien gesetzt, zu lange an ihnen festgehalten oder nicht auf Marktveränderungen bzw. Kundenbedürfnisse reagiert. Das zeigt, wie wichtig die Anpassungsfähigkeit von Strategien ist.

Ein Tool, mit dem diese Anpassung erleichtert werden kann, ist das flexible Management-System OKR (Objectives and Key Results). Dieses stellt die Verknüpfung zwischen Unternehmensvision und -strategie her. Grundlage dafür bildet die Führungsmethode Management by Objectives (MBO), die Unternehmensstrategien in konkrete Ziele übersetzt und sich über alle Unternehmensbereiche erstreckt.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Formulierung von so genannten SMART (spezifischen, messbaren, aktivierenden, realistischen und terminierten) Zielen. OKR bauen auf diesem System auf, unterscheiden sich jedoch in drei Punkten:

  • Es wird zwischen qualitativ und quantitativ messbaren Zielen unterschieden. Objectives sind qualitative Ziele mit motivierendem Charakter, die die Frage „Wo will ich hin?“ beantworten. Key Results beschreiben einen quantitativ messbaren Weg, mit dem Objectives erreicht werden („Was muss ich tun und wie kann ich dies messen?“). Objectives werden bewusst ambitioniert formuliert, daher gilt eine Zielerreichung von 70 – 80 % als sehr gutes Ergebnis.
  • OKR-Ziele werden üblicherweise für drei Monate vereinbart während MBO-Ziele klassische Jahresziele sind. Der kurze Zyklus hat den Vorteil, dass schneller auf Veränderungen reagiert und bei internen Problemen gegengesteuert werden kann. Zudem ist eine kurzzyklische und iterative Strategiesteuerung besser mit agilen Arbeitsweisen vereinbar.
  • Der wohl wichtigste Aspekt ist die Transparenz: Während MBO-Ziele in den Silos der Organisation verbleiben, sehen alle Unternehmensmiglieder OKR-Zielen und können nachvollziehen, welche Geschäftsbereiche und Teams was zur Unternehmensstrategie beitragen. Dies steigert das Verständnis für unterschiedliche Aufgaben im Unternehmen und fördert den crossfunktionalen Austausch.

2. Kollaboratives Prozessmanagement

Prozesse sind das Rückgrat einer funktionierenden Organisation. In jedem Unternehmen gibt es Arbeitsschritte, die immer nach demselben Muster ablaufen. Durch Standardisierung werden Fehler vermieden, Qualitätsstandards eingehalten und z.B. neuen Mitarbeitenden das Onboarding erleichtert. Prozessmanagement schafft auch Freiräume: Je weniger sich Mitarbeitende um stereotype Abläufe kümmern müssen, desto mehr Zeit bleibt ihnen für die Arbeit an neuen Ideen und für „Trial & Error" Versuche, die im Zuge agiler Transformation unumgänglich sind. Damit das gelingen kann, empfehlen wir folgende Handlungsweisen:

  • Gemeinschaftlich vom Ist zum Soll: Traditionell werden Soll-Prozesse vom Management vorgegeben. Sofern Mitarbeitende im prozessualen Denken geübt sind, ist das kein Problem. Häufig führt dieser Ansatz jedoch dazu, dass hochtheoretische Prozesse ohne Praxisbezug in recht komplexen Programmen modelliert werden, im Arbeitsalltag aber „der kurze Dienstweg“ bevorzugt wird. Daher ist das gemeinsame Erarbeiten vom Ist zum Soll wesentlich.
  • Mitarbeitende beteiligen: Der Kern agilen Vorgehens ist die Beteiligung der Mitarbeitenden und die Verlagerung der Verantwortung in das Team.
  • Mit Ist-Prozessen beginnen: Die Formulierung von Ist-Prozessen ist näher am Arbeitsalltag der Beteiligten und verlangt ihnen weniger Vorstellungskraft ab. Damit kommen sie schneller ans Ziel.
  • Komplexität reduzieren: Standardisierung steht im Zentrum des Prozessmanagements – allerdings sollte das gewählte Tool so einfach wie möglich sein. Mit anderen Worten: Eine tabellarische Darstellung von Prozessen in Excel ist besser als gar keine Dokumentation.

3. Innovationsorientierte IT

Innovationsorientierte IT ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor agiler Transformation. Künstliche Intelligenz, Big Data und maschinelles Lernen ermöglichen heute datengetriebene Geschäftsmodelle, die vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Hier liegt großes Potenzial, denn medienbruchfreie Arbeitsabläufe und eine Automatisierung standardisierter Prozesse schaffen Freiräume für neue Formen des Arbeitens. Doch wie sieht ein möglicher Weg der Innovationsorientierung aus?

IT als Ermöglicher: In vielen Unternehmen wird die IT immer noch als reiner Kostenfaktor betrachtet und dementsprechend behandelt. Eine solche IT kann nicht zur agilen Transformation beitragen. Doch wie verläuft der Wandel von einem IT-Cost Center zum strategischen Profit Center, das strategische Wettbewerbsvorteile ermöglicht? Die Harmonisierung von IT-Landschaften ist ein möglicher Weg. Dabei müssen historisch gewachsene IT-Anwendungen durch digitale Plattformen mit intelligent vernetzten Anwendungen ersetzt werden. Beiläufig sinkt dadurch auch der Service-Aufwand. Die Automatisierung von Prozessen mittels Robotic Process Automation (RPA) ist für viele IT-Einheiten der erste Schritt in Richtung KI und damit auch in Richtung Innovationstreiber.

Bottom-up Digitalisierung: Digitalisierungspotenziale im Berufsalltag können innerhalb von wenigen Stunden ermittelt werden. Stellen Sie einem Team (egal ob Management, Abteilung etc.) die Frage, was sie bei der täglichen Arbeit nervt. Sie werden sehen, dass das Whiteboard gar nicht groß genug sein kann, um alle Antworten aufzunehmen. Gruppieren Sie im nächsten Schritt ähnliche Antworten zu sinnvollen Kategorien, priorisieren Sie diese und sammeln Sie Vorschläge, wie das Team selbst dazu beitragen kann, diese Probleme zu beheben. Formulieren Sie konkrete Aufträge bzw. Fragen zur Umsetzung an die IT und benennen Sie einen Verantwortlichen pro Punkt. Mit diesem einfachen Format schaffen Sie Freiräume durch Digitalisierung und fördern gleichzeitig Partizipation und Eigenverantwortung im Team. Klingt zu einfach? Probieren Sie es aus!

4. Kompetenzorientierte Führung

Führung ist das wohl wichtigste Strukturthema. Denn was nützen kollaborative Prozesse, eine innovationsorientierte IT und adaptive Steuerungssysteme, wenn Führungskräfte nichtsdestotrotz Informationen horten, tägliche Berichte einfordern und in alle Entscheidungen eingebunden werden wollen? Eines vorweg: Flache Hierarchien bedeuten nicht, dass Führung keine Rolle spielt. Förster und Kreuz bringen es auf den Punkt: „Die alte Hackordnung löst sich auf und mit ihr auch die äußerlichen Attribute der Macht, aber an der grundlegenden Bedeutung von Führung hat sich nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Führung ist in einer unberechenbaren und volatilen Welt wichtiger denn je.“[1]

In Zeiten des Wandels sind Führungskräfte also aufgefordert, ihr Verhalten als Führungspersönlichkeit zu reflektieren. Das Ziel lautet, weg von „Boss“ oder der „Chefin“ und hin zu einer Persönlichkeit, die Mitarbeitenden eine Zukunftsvision aufzeigt und sie dabei unterstützt, ihr Handeln auf diese Vision auszurichten. In der Praxis liegt jedoch noch zu viel Verantwortung auf zu wenigen Schultern. Das führt dazu, dass Entscheidungen nicht dort getroffen werden, wo die größte Entscheidungskompetenz liegt bzw. Mitarbeitende nicht lernen, Verantwortung zu übernehmen. Für einige wenige mag das angenehm sein, für Engagierte ist es jedoch demotivierend. Was können Führungskräfte also tun?

  • Geben Sie zu, wenn Sie falsch lagen: Sprechen Sie offen über Ihre Fehler und wie Sie mit ihnen umgegangen sind. Das fördert eine offene Lernkultur und motiviert Ihr Team, es Ihnen gleichzutun.
  • Binden Sie Ihr Team aktiv in Entscheidungsprozesse ein: In Kombination mit konkreten Entscheidungsregeln funktioniert das gut. Noch besser wäre, die Verantwortung mit klaren Regeln ins Team abzugeben.
  • Fordern Sie Widerspruch ein: Rufen Sie Ihre Mitarbeitenden immer wieder aktiv zum Widerspruch auf. Nicht aus Prinzip, sondern wenn es fachliche Einwände gibt. Nehmen Sie die Einwände ernst, aber nicht persönlich.
  • Weg mit sinnlosen Regeln: Schaffen Sie unnötige Regeln in ihrem Verantwortungsbereich ab. Fragen Sie ihre Mitarbeitenden, welche Regeln, Konventionen und sonstige Hindernisse die Arbeit behindern.
  • Stören und hinterfragen Sie Abläufe: Wirken Sie Aussagen, wie „geht nicht“ und „immer schon so gemacht“ entgegen. Fordern Sie neue Lösungen ein und stellen Sie so ihre Mitarbeitenden auf den kontinuierlichen Wandel ein. Wo Sie lernen müssen, Verantwortung abzugeben, müssen ihre Mitarbeitenden lernen, diese anzunehmen.

Stellen Sie aktiv die Weichen für die agile Entwicklungsreise

Agile Transformation erfordert also besondere strukturelle Rahmenbedingungen, die nachhaltige Veränderung überhaupt erst ermöglichen. Dabei ist Strukturwandel ein langfristiger Prozess bei dem Hebel der agilen Entwicklungsreise aktiv bewegt werden.

Vor allem für’s Management gilt: Seien Sie mutig, ändern Sie limitierende Strukturen und fangen Sie vor allem bei sich selbst an. Der Kulturwandel, den wir im nächsten Beitrag besprechen, hängt maßgeblich davon ab!

Dr. Ulrich Pfeiffer

Management Consultant

Dr. Ulrich Pfeiffer ist einer unser Experten im Agile Transformation & New Work Team der ADVIA.

Ulrich beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der nachhaltigen Transformation von Organisationen im Kontext der Digitalisierung. Er berät Unternehmen zu neuen Organisationsformen, hybriden Arbeitsmodellen und Strategien für die digitale Zukunft.

[1] VERGEUDE KEINE KRISE!: 28 rebellische Ideen für Führung - Förster, Anja, Kreuz, Peter - Amazon.de: Bücher

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