Ohne Ziel ist auch der Weg egal…

Agile transformation teil 2

Durch Situationsanalyse und Zielbild den agilen Blindflug vermeiden

Agile transformation teil 2

Während meines Studiums legte ich häufiger als DJ auf und freute mich eines Abends besonders auf einen Gig – der Club war cool und der Veranstalter hatte mir von seiner neuen Soundanlage geschwärmt. Als ich eine Stunde vor Beginn gut gelaunt mit meinen Schallplattenkoffern dort auftauchte, erntete ich konsternierte Blicke. Der Veranstalter hatte die alten Plattenspieler nämlich gegen ein hypermodernes Mischpult mit mehreren CD-Playern abgeschafft. Mein Equipment war somit nutzlos und wir standen kurz vor der Veranstaltung ganz schön planlos da. Was diese Anekdote mit Agilität zu tun hat? Eigentlich nichts. Sie zeigt lediglich, was passiert, wenn die eingesetzten Mittel den Zweck nicht erfüllen. Das Ziel („Party mit Musik“) war mit den gewählten Mitteln („Schallplatten“) unter Berücksichtigung der vorherrschenden Rahmenbedingungen („kein Plattenspieler vorhanden“) schlichtweg nicht erreichbar.

Ein solches Szenario begegnet ADVIA in der Praxis recht häufig. So beschließt beispielsweise das Management eines Unternehmens, das bisherige Projektmanagement durch SCRUM zu ersetzen und sein Team in Design-Thinking, Lean Start-Up und OKR weiterzubilden – ohne im Vorfeld eine Situationsanalyse durchzuführen, in der Ziele und Herausforderungen abgeklärt werden. Bildlich dargestellt: Sie schicken ihre Mitarbeitenden mit einem Koffer voller Reggae-CDs zu einer Heavy-Metal-Party. Dank Blindflug ist eine Bruchlandung vorprogrammiert.

ADVIA Modell der agilen Transformation

Abbildung 1: Das ADVIA Modell der agilen Transformation

Deshalb ist es wesentlich, sich vor Einführung einer agilen Transformation auf drei zentrale Fragen zu fokussieren (siehe Abbildung 1):

  • Wo stehen wir? (Situationsanalyse)
  • Wer sind wir? (Reflexion der Unternehmenskultur)
  • Wo wollen wir hin? (Zielformulierung)

Im zweiten Beitrag unserer Reihe "Agile Transformation" beschäftigen wir uns daher mit der Frage, wie durch Situationsanalyse und Zielbild ein agiler Blindflug vermieden werden kann. Im ersten Beitrag drehte sich alles um die Frage der Sinnhaftigkeit der langfristigen Planung und ob es denn DEN einen richtigen Weg in die Agilität gibt.

Situationsanalyse: „Wo stehen wir?“

SCOPE, VRIO, STEP, PESTEL, SWOT und BSC sind nur einige der Akronyme, hinter denen sich Instrumente zur Situationsanalyse verbergen. Die Standortbestimmung ist zwar essentiell, aber man sollte sich auch nicht darin verlieren. Daher empfiehlt sich eine Beschränkung auf wenige, aber wirkungsvolle, Analysen: Die SWOT-/TOWS-Analyse, das Agile Value Chain Mapping und die Stakeholder Analyse.

SWOT-/TOWS-Analyse:
Die SWOT-Analyse ist zwar nicht das modernste Tool der strategischen Analyse, eignet sich aber aufgrund seiner Kombination von Umfeld- und Organisationsanalyse für den Einstieg in den Transformationsprozess sehr gut. Während die SWOT-Analyse die innere und äußere Situation beleuchtet, lassen sich mit Hilfe der TOWS-Analyse erste Handlungsoptionen ableiten. Es ist auch für Kunden immer wieder erstaunlich, was ein 3- bis 4-stündiger Workshop an Erkenntnissen und Handlungsoptionen liefert. Eines ist dabei klar: Will man eine Business-Strategie für das gesamte Unternehmen entwickeln, springt man mit einer solchen Analyse zu kurz. Hier geht es vielmehr darum, die agile Entwicklungsreise nicht völlig planlos zu beginnen.

Agile Value Chain Mapping: Dieses Instrument analysiert z.B. mit einer Wardley-Map die Wertschöpfungskette (WSK) eines Unternehmens und schlägt drei Fliegen mit einer Klappe:

  • Alle Beteiligten haben dasselbe Verständnis hinsichtlich WSK.
  • Analyse einzelner Glieder der WSK ist möglich.
  • Die Bestimmung des Reifegrads der einzelnen Glieder der WSK hilft bei der Einschätzung, ob agiles Vorgehen in bestimmten Bereichen überhaupt sinnvoll ist.

Stakeholder-Analyse: Bei der Stakeholder-Analyse werden die Interessen, Erwartungen und Wünsche zentraler Personen(gruppen) transparent dargestellt, denn es gilt der Grundsatz: Keine Transformation ohne Menschen. So kann bereits zu Beginn festgestellt werden, wo Widerstände zu erwarten sind und wer den Prozess unterstützen kann. Dies hilft bei der Kommunikation und der Steuerung der Transformation. Dabei ist es wichtig, Kunden und Partner von Anfang an in die Stakeholder-Analyse einzubinden, um nicht an den Anforderungen des Marktes vorbei zu agieren.

Reflexion der Unternehmenskultur: „Wer sind wir?“

Die Unternehmenskultur ist ein wichtiges und komplexes Thema und Gegenstand zahlreicher Bücher und Theorien. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht umfasst Kultur zumindest drei Ebenen:

  • Grundannahmen und Überzeugungen
  • Werte und Normen
  • Symbole und Verhaltensweisen

Canvas-Modelle helfen, die eigene Kultur überhaupt erst „besprechbar“ zu machen. Ein von ADVIA entwickeltes Culture and Value Canvas hilft, die Unternehmenskultur sichtbar und besprechbar zu machen – einschließlich jener Faktoren, die das kollektive Handeln unbewusst beeinflussen. Es gliedert sich in drei Ebenen: kulturelle Vision, gelebte Kultur und Unternehmenswerte als Fundament der Kultur (siehe Abbildung 2).

Kulturelle Vision:
Hier geht es darum zu klären, welche Vision das Unternehmen hat und welchen Zweck es verfolgt. Sofern eine Unternehmensvision bereits vorliegt, kann sie mit Hilfe des Canvas kritisch reflektiert werden. Simon Sinek stellt in seinem „Golden Circle Model[1]“ folgendes fest: Die meisten Unternehmen wissen, was sie tun („what“). Einige können auch erklären, wie sie arbeiten („how?“), aber nur die wenigsten wissen, warum sie etwas tun („why?“). Das ist problematisch, weil sowohl der Erfolg beim Kunden als auch die emotionale Identifikation der Mitarbeitenden maßgeblich vom Unternehmenszweck abhängen. So definiert Volvo seine Existenzberechtigung beispielsweise folgendermaßen: „We exist to protect the people inside and around our cars”. Die Botschaft ist klar, gesellschaftlich relevant und emotional. Anstatt seine Kommunikation auf ein austauschbares Statement (z.B. „We build great cars with advanced technologies.“) zu beschränken, fokussiert sich das Unternehmen auf die Frage „why“.

Wertefundament:
Die Unternehmenswerte bilden das Fundament der Organisationskultur und sind eine Art „innerer Treiber“, da sie das Handeln einer Organisation und alle zwischenmenschlichen Aspekte der Arbeit prägen. Gelebte Unternehmenswerte sind eine Art „kollektiver Leitplanken“ während einer agilen Transformation, da sie den Rahmen für die Bildung neuer Strukturen bieten.

Sie bieten Stabilität im anstrengenden Transformationsprozess, der alle Beteiligten vor zahlreiche Veränderungen stellt und viel Eigeninitiative fordert.

Gelebte Kultur: Betrachtet man kulturelle Vision und das Wertefundament als zwei Brötchenhälften des Canvas, so ist gelebte Kultur die (Vegi-)Wurst dazwischen. Die Kuchenrunde an Geburtstagen, der Kampf um die besten Parkplätze, der tägliche Kontrollgang des Chefs oder die Zusammenarbeit im Arbeitsalltag – das sind alles Routinen und Rituale, die eine Unternehmenskultur sichtbar machen. Spannend dabei ist die Frage, ob sich Unternehmenswerte in der gelebten Kultur wiederfinden und ob das Operative dazu beiträgt, Unternehmensvision zu erreichen und den Unternehmenszweck zu erfüllen. Wie laufen Meetings ab? Mit Agenda und Moderation oder als endlose Gesprächskreise? Gibt es Feedback nur im Mitarbeitergespräch oder ist es Teil der täglichen Interaktion? Kommt Kritik vor dem ganzen Team oder in einem geschützten Raum? Wie werden Entscheidungen getroffen? Solche und weitere Fragen geben Aufschluss über die gelebte Kultur. Auf Basis einer guten Vorbereitung und den richtigen Teilnehmenden kann die Standortbestimmung und Kulturreflexion an ein bis zwei Workshop-Tagen durchgeführt werden – egal, ob analog oder digital. Zeit, die angesichts der Fülle an Erkenntnissen und des gemeinsamen Verständnisses gut investiert ist.

Zielformulierung: „Wo wollen wir hin?“

Die Herausarbeitung der Ziele bezeichnet man als Strategieentwicklung – doch was ist überhaupt eine Strategie? Ist es ein Zielbild? Ein Entwicklungsweg? Eine Roadmap? Oder ist die Entscheidung, was man nicht tut essentiell? Vermutlich ist es eine Kombination aus alledem. Viel wichtiger ist, dass die gesamte Organisation ein Ziel vor Augen hat und dadurch den angestrebten Veränderungen motiviert entgegenblickt.

Mit Blick auf die digitale Transformation benötigt jedes Unternehmen ein klares Zielbild, das beschreibt, wie das Unternehmen in Zukunft folgende Fragen beantworten wird:

  • Wie begegnen wir den Herausforderungen der digitalen Transformation?
  • Wie nutzen wir die Chancen der digitalen Transformation?

Geschafft: Glückwunsch zur agilen Transformation!

Beim Zielbild-Workshop sollten so viele Personen und Perspektiven wie möglich in den Prozess involviert werden, denn: Digitale Transformation ist viel zu komplex, um sie nur der obersten Führungsebene zu überlassen. Darüber hinaus soll sie allen Mitarbeitenden als Motivation und Orientierung dienen. Grundlage des Workshops sind die Ergebnisse der Situationsanalyse und Wertereflexion. Eine gut ausgearbeitete SWOT-Analyse bietet bereits zahlreiche Handlungsoptionen. Eines müssen Sie bei der Entwicklung des Zielbildes jedoch im Auge behalten: Die Welt dreht sich weiter – unabhängig davon, was im Workshop erarbeitet wurde! Betrachten Sie das Zielbild daher bitte nicht als starres Gesetz, sondern als bewegliche Orientierungsmarke, die es immer wieder anzupassen gilt. Am Ende des Tages wissen Sie, wo Sie stehen und wo Ihre Chancen und Herausforderungen liegen.

Sie wissen auch, wie Ihr Unternehmen tickt und aus welchen Ressourcen Sie schöpfen können. Und das wichtigste: Sie wissen genau, in welche Richtung die Reise geht und warum Sie sich überhaupt erst auf Reise begeben haben. Nun geht es darum, die Lücke zwischen Ist und Soll zu füllen – wie das Schritt für Schritt gelingen kann, erfahren Sie in den kommenden Beiträgen.

P.S.: Sie möchten noch immer wissen, wie die Party-Geschichte ausgegangen ist? Mit etwas Improvisationstalent, einem in Rekordzeit organisierten Plattenspieler und Stapel gebrannter Mix-CDs war der Abend (nach einigen Panikattacken) doch noch gerettet. Die Lehre daraus kann 1:1 auf Agilität umgelegt werden: Kreativität und der Mut zum Unfertigen sind unabdingbar. Mehr dazu erzähle ich Ihnen in einem kommenden Artikel, der sich mit der Entwicklung kultureller Kompetenzen befassen wird.

Dr. Ulrich Pfeiffer

Management Consultant

Dr. Ulrich Pfeiffer ist einer unser Experten im Agile Transformation & New Work Team der ADVIA.

Ulrich beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der nachhaltigen Transformation von Organisationen im Kontext der Digitalisierung. Er berät Unternehmen zu neuen Organisationsformen, hybriden Arbeitsmodellen und Strategien für die digitale Zukunft.

[1] Start with Why: How Great Leaders Inspire Everyone to Take Action: Amazon.de: Sinek, Simon: Fremdsprachige Bücher

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